DIE EUROPÄISCHE MENSCHENRECHRTSKONVENTION UND DIE SCHWEIZ
Wieso braucht die Schweiz die EMRK und die EMRK die Schweiz?
Abschrift des Vortrags, gehalten an der Universität Zürich am 5. Dezember 2011 von Ludwig A. Minelli, Rechtsanwalt und Generalsekretär der Schweizerischen Gesellschaft für die Europäische Menschenrechtskonvention (SGEMKO)
Persönliche Erfahrungen als Klägervertreter in Verfahren gegen die Schweiz in Strassburg.
Sehr verehrte Damen und Herren
Für ihre freundliche Einladung, in Ihrem Kreise etwas über die persönlichen Erfahrungen als Klägervertreter in Verfahren gegen die Schweiz in Strassburg zu erzählen, danke ich herzlich.
Lassen Sie mich die folgende Warnung vorausschicken: Wer nicht möchte, dass Kenntnisse über die Europäische Menschenrechtskonvention – abgekürzt EMRK – zu Veränderungen in seinem Leben führen, hat jetzt noch Gelegenheit, den Raum zu verlassen.
Ich äussere diese Warnung nicht grundlos.
Vor etwas mehr als 38 Jahren, am Abend des 29. November 1973, um 20 Uhr, fand ich mich im Zürcher Zunfthaus zur Zimmerleuten ein. Dort hatte der zürcherische Juristenverein zu einem Vortrag des Berner Öffentlichrechtlers JÖRG PAUL MÜLLER geladen. Und dessen Vortrag hiess genau so, wie der Obertitel zu dieser Veranstaltungsreihe heisst: Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz
Damals war ich hauptberuflich als Journalist tätig, als erster Schweizer Korrespondent des deutschen Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL. [1]
Die Ausführungen Müllers zeigten mir, dass die EMRK ein Instrument im Sinne eines archimedischen Hebels darstellt, welches, am archimedischen Punkte Strassburg angesetzt, erlaubt, Dinge in der Schweiz zu bewegen. Ich war buchstäblich elektrisiert.
In der Folge wandte ich mich an den Europarat in Strassburg und bat darum, mir Material über die EMRK zuzustellen. Bald traf eine umfangreiche Sendung ein; sie enthielt auch die auf nachkriegsbedingt holzhaltiges Papier hektographierten "Travaux préparatoires", die später äusserst selten und gesucht waren. [2]
Bereits wenige Wochen später, zwischen dem 3. und dem 7. Januar 1974, veröffentlichte ich in der Basler "National-Zeitung" - der Vorläuferin der "Basler Zeitung" - und andren Blättern, eine vierteilige Serie über die EMRK. [3]
Ein Jahr minus einen Tag nach dem Vortrag von JÖRG PAUL MÜLLER in Zürich ratifizierte die Schweiz die EMRK; sie ist somit am 28. November 1974 in Kraft getreten.
Am Wochenende des 30./31. August 1975 veranstalteten die deutschschweizerischen Rechtsfakultäten eine Tagung über die EMRK in Neuenburg. Die Organisation lag in den Händen des damaligen Assistenten von Prof. DIETRICH SCHINDLER jun., DANIEL THÜRER. Auch an jener Tagung nahm ich als interessierter Journalist teil. Am Samstagabend wurden die Teilnehmer aufgefordert, allfällige Fragen für das Kolloquium des Sonntagmorgens in eine Schachtel zu legen. Im Kolloquium zeigte sich, dass die Hälfte aller Fragen von mir stammten; sie nahmen dreiviertel der Zeit in Anspruch.
Als in der Debatte jemand den Vorschlag machte, der Bund sollte ein Büro einrichten, welches die Bürgerinnen und Bürger bei EMRK-Fragen beraten könne, machte ich sofort entschieden Opposition: Es ist doch ausgeschlossen, dass der mutmassliche Verletzer von Menschenrechten die Verletzten berät! Die sei, so meinte ich, eine Aufgabe, die privat geleistet werden müsse. Das war der Ausgangspunkt zur Gründung der Schweizerischen Gesellschaft für die Europäische Menschenrechtskonvention (SGEMKO). Diese habe ich dann am 1. September 1977 gegründet.
Bei einem nach der Neuenburger Tagung erfolgten Besuch von JÖRG PAUL MÜLLER bei mir auf der Forch, wo ich seit 1968 wohne, sagte er mir wörtlich: "Sie söttid no studiere!".
Ich warf ein: "Wohl, um grössere Satzkosten bei der Visitenkarte zu haben!". Doch dann folgte ich seinem Vorschlag, immatrikulierte mich ab Wintersemester 1976/77 an der Alma Mater Turiciensis und schloss am 18. Februar 1981 mit dem lic. iur. ab. Sechs Jahre später, im Alter von 54 Jahren, legte ich schliesslich auch die Anwaltsprüfung ab.
Auf diese Weise hat die EMRK bei mir die Weiche in meinem beruflichen Leben gestellt; ich war vom Journalisten zum Anwalt geworden. Ich warne somit nochmals:
Vorsicht, die EMRK kann Ihr Leben verändern!
Nach dem Inkrafttreten der EMRK war ich daran interessiert, dieser in der Schweiz möglichst rasch Aufmerksamkeit und Wirksamkeit zu verschaffen: Es hatte nach Zustandekommen der EMRK im Jahre 1950 ohnehin 24 Jahre gedauert, bis sich die Schweiz dazu hatte bequemen können, diesem Vertragswerk beizutreten, und dies erst noch mit zahlreichen Vorbehalten, die später meist als ungültig wegfielen. [4]
Als äusserst geeignet für ein Verfahren gegen die Schweiz erachtete ich die damals absolut rückständige Verfahrensordnung im Disziplinarrecht der Schweizer Armee.
Als wieder einmal ein Soldat einen scharfen Arrest von fünf Tagen aufgebrummt erhielt, schlug ich diesem vor, dass ich ihm bei seinen Beschwerden helfe, um so ein Verfahren einzuleiten, mit welchem den Strassburger Instanzen der EMRK Gelegenheit geboten wurde, zum Militärdisziplinarwesen in der Schweiz Stellung zu beziehen.
Am 8. Juni 1976 nämlich hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einer ähnlichen Sache gegen die Niederlande ein Urteil gefällt und darin festgehalten, dass Militärarrest, obwohl eine Disziplinarstrafe, einen Freiheitsentzug darstellt, so dass darauf der Artikel 5 – Recht auf Freiheit und Sicherheit – Anwendung finden muss. Dieser verlangt für Freiheitsentzug einer richterliche Entscheidung, was damals auch in den Niederlanden nicht gewährleistet war. [5]
Der Basler HERBERT EGGS befand sich Herbst 1975 in der Rekrutenschule. Dort wurde ihm vom Instruktionshauptmann am 6. November ein scharfer Arrest von fünf Tagen auferlegt, weil er einen an ihn ergangenen Befehl, den er für ungerecht hielt, nicht nachgekommen war. Dagegen beschwerte er sich schriftlich beim Schulkommandanten, der die Beschwerde am 7. November abwies. Mit Weiterzugsbeschwerde vom 15. November wandte er sich an den Oberauditor der Armee und berief sich dort ausdrücklich auf Artikel 5 Absatz 4 der EMRK, der jeder Person, welcher die Freiheit entzogen wird, den Anspruch verleiht, dass ein Gericht raschmöglichst über die Rechtmässigkeit der Haft entscheidet und im Fall der Widerrechtlichkeit die Entlassung angeordnet, sowie auf Artikel 13 der EMRK, welcher den Anspruch auf auf eine wirksame Beschwerde bei Verletzung eines EMRK-Anspruchs garantiert.
Doch auch der Oberauditor – der oberste Ankläger der Armee, dem auch im Rahmen der Militärjustiz Verwaltungsaufgaben oblagen – wies am 27. November seine Beschwerde ab. Gegen diesen Entscheid gab es kein weiteres nationales Rechtsmittel, schon gar nicht an ein Gericht.
Nachdem EGGS inzwischen die Rekrutenschule abgeschlossen hatte, wurde er am 16. Dezember 1975 aufgefordert, die verhängte Disziplinarstrafe abzusitzen. Tatsächlich fand dies dann zwischen dem 19. und dem 21. Januar 1976 statt.
Ich formulierte EGGS Beschwerte an die damals als erste Instanz zuständige Europäische Menschenrechtskommission in Strassburg. Sie wurde von EGGS am 29. Dezember 1975 eingereicht. Darin wurde nicht nur der Umstand gerügt, dass er nie die Möglichkeit gehabt hatte, den Entzug seiner Freiheit durch ein Gericht überprüfen zu lassen. Moniert wurden auch zusätzliche Punkte, nämlich:
die unterschiedlichen Ausgestaltung des scharfen Arrests je nach dem, ob es sich um einen Offizier oder einen Soldaten handelt, was als Diskriminierung auszulegen sei; sowie Mängel im Vollzug des Arrests, die in den Augen des Beschwerdeführers den vom Ministerkomitee des Europarates proklamierten Mindestanforderungen für die Behandlung von Gefangenen zuwiderliefen. Jeder solche Mangel sollte als Verletzung von Artikel 3 der Konvention betrachtet werden; sodann habe das Lokal, in welchem der Arrest vollzogen wurde, den Anforderungen von Artikel 188 des damaligen Militärstrafgesetzes nicht entsprochen.
Es erscheint mir wichtig, in Fällen, die nach "Strassburg" gehen, jeweils möglichst viele Rechtsfragen aufzuwerfen. Allerdings: Diese sollten schon in den vorausgehenden nationalen Verfahren aufgeworfen werden. Deshalb empfiehlt es sich, bei jedem Fall schon vor der ersten nationalen Instanz und dann immer wieder zuallererst zu überprüfen, ob und allenfalls welche Garantien der EMRK verletzt sein könnten.
Die Menschenrechtskommission beschloss am 20. Mai 1976, die Beschwerde der Schweizer Regierung zur Stellungnahme zuzustellen. Die Kommission hielt in ihrem Bericht zur Zulässigkeit der Beschwerde vom 11. Dezember 1976 fest, die Beschwerdepunkte betreffend die Bedingungen des Arrestvollzuges seien offensichtlich unbegründet; im übrigen sei die Beschwerde zulässig. [6]
Das war das erste Mal, dass gegen die Schweiz in Strassburg eine Beschwerde zugelassen wurde.
Am 13. Juli 1977 führte die Kommission noch im alten Gebäude der Menschenrechtsinstanzen in Strassburg eine mündliche Verhandlung durch. Ich bat meinen Freund, Rechtsanwalt Dr. MANFRED KUHN, HERBERT EGGS formell anwaltlich zu vertreten und mich als seinen Assistenten an diese Verhandlung mitzubringen, was auch so geschah. Die Schweizer Regierung wurde von JOSEPH VOYAME, damals Direktor des Bundesamts für Justiz, vertreten; seiner Delegation gehörten zudem Frau Dr. GRET HALLER, Juristen im Bundesamt für Justiz, sowie Dr. MARC VIROT, Abteilungschef im Eidgenössischen Militärdepartement (EMD) an.
Am 4. März 1978 schloss die Kommission den Fall ab. Sie war mit 12 gegen 2 Stimmen der Ansicht, die Schweiz habe Artikel 5 Absatz 1 EMRK verletzt, weil dem Oberauditor der Armee eine Qualifikation als Gericht fehle. Das bedeute, dass dem Beschwerdeführer die Freiheit in Verletzung der EMRK entzogen worden sei.
In Bezug auf seinen Anspruch auf gerichtliche Beurteilung fand die Kommission, im Amt des Oberauditors herrsche eine Vermischung von Kompetenzen, welche mit den Anforderungen an ein gerichtliches Organ schwerlich vereinbar sei; er sei unmittelbarer Vorgesetzter der militärischen Untersuchungsrichter und der Auditoren (also der Ankläger vor den Militärgerichten), und dergleichen mehr. Demzufolge könne der Oberauditor nicht einem <> gleichgeachtet werden. Damit sei der Freiheitsentzug schon nach Absatz 1 von Artikel 5 EMRK nicht gerechtfertigt gewesen. [7]
Da die Schweiz diesen Bericht der Kommission nicht beim Gerichtshof anfocht und Beschwerdeführern unter der damals gültigen Form der EMRK eine solche Befugnis nicht zustand, hätte nun der Ministerkomitee des Europarates definitiv entscheiden sollen, ob die Schweiz im Fall EGGS die EMRK verletzt hat oder nicht. Damals war für derartige Entscheidungen im Ministerkomitee jeweils eine Zweidrittelmehrheit notwendig. Da weder für noch gegen eine Verletzung eine Zweidrittelmehrheit zustande gekommen war, blieb der Fall in der Schwebe und damit unentschieden, was vollständig unbefriedigend war.
Parallel zum Fall EGGS stand ich stets in Verbindung mit einer Organisation, welche sich um die Rechte von Soldaten kümmerte. In diesem Zusammenhang reichte ich als Vertreter von PETER HERZIG am 24. Mai 1977 eine Beschwerde wegen scharfen Arrests bei der Menschenrechtskommission ein. Diese Beschwerde führte zusammen mit fünf anderen unter dem Namen "SANTSCHI und andere gegen die Schweiz" am 13. Oktober 1981 zur Meinungsäusserung der Kommission, auch in diesen Fällen sei Artikel 5 Absatz 1 EMRK verletzt worden. Sie schlug vor, die Beschwerdeführer mit Zahlungen zwischen 100 und 250 Franken zu entschädigen. [8]
In diesen Fällen hat dann das Ministerkomitee des Europarates den Bericht der Kommission zu seinem Entscheid gemacht.
Das hielt ich nun bezüglich des Falles von HERBERT EGGS für unfair und leitete vor einheimischen Instanzen ein Verfahren ein, welches darauf abzielte, auch ihn zu entschädigen. National hatte ich damit keinen Erfolg, wandte mich aber anschliessend erneut an die Menschenrechtskommission. Dies führte zu Vergleichsgesprächen zwischen der Schweiz und mir im Hotel Bern in Bern unter dem Vorsitz des damaligen Schweizer Vertreters in der Menschenrechtskommission, STEFAN TRECHSEL, mit dem Ergebnis, dass wir uns gütlich geeinigt haben. Die Schweiz entschädigte dann auch HERBERT EGGS. Die Unterlagen zum Fall EGGS sind im Übrigen im Schweizerischen Sozialarchiv in Zürich einzusehen. [9]
Im Zusammenhang mit Fall EGGS sorgte ich durch ein Verfahren wegen Freiheitsberaubung im Amt gegen den damaligen Oberauditor der Armee, ERNST LOHNER, dafür, dass dieser während einer beträchtlichen Zeit keine Weiterzugsbeschwerden gegen militärische Arreststrafen entschieden hat. Das Bundesgericht hat ihn dann zwar mit einer frei erfundenen Behauptung vor Bestrafung bewahrt, doch sass der Schock bei ihm tief. [9] (sic!)
Der Bundesrat unterbreitete auf Antrag von Bundesrat RUDOLF GNÄGI, damals Chef des EMD, dem Parlament in der Folge eine dringende Vorlage zur Änderung des Militärdiszilinarrechts. [10] (sic!) Sie wurde im Nationalrat gestoppt [11], und erst mit einer späteren Vorlage kam es dann zur Anpassung des Rechts an die Strassburger Anforderungen. [12]
Mit der Anpassung wurden Ausschüsse der Militär-Appellationsgerichte eingeführt und diese für die Behandlung von Weiterzugsbeschwerden gegen militärische Arreststrafen für zuständig erklärt. Somit hat seither eine solche Weiterzugsbeschwerde stets aufschiebende Wirkung, wobei regelmässig ein rechtskräftiger Entscheid erst nach Abschluss der betreffenden Dienstleistung erfolgen konnte. Damit fiel die früher meist beabsichtigte zusätzliche negative Auswirkung für den disziplinarisch Bestraften weg, dass er zufolge einer während der Dienstleistung vollstreckten Artreststrafe die in jenem Dienst bereits geleisteten Diensttage "verloren" hat.
Das hat selbstverständlich die Libido der Kommandanten, denen die Arrest-Strafkompetenz nach wie vor zusteht, schwer beeinträchtigt, so dass die Verhängung von scharfem Arrest in der Folge stark zurückgegangen sein dürfte.
An diesem Beispiel ist zu ersehen, dass eine volle Durchsetzung der EMRK in einem bestimmten Bereich nicht allein durch Erstreiten eines Strassburger Entscheides zu erreichen sein dürfte. Es bedarf immer und immer wieder auch des phantasievollen Einsatzes anderer rechtlicher und politischer Möglichkeiten, um letztendlich das gesteckte Ziel zu erreichen.
Die hohe Aufmerksamkeit, welche dieses besondere Strassburger "Arrestverfahren" in den Schweizer Medien gefunden hat, half stark mit, das Wissen um die Existenz der EMRK und ihrer Strassburger Institutionen rasch allgemein werden zu lassen – eine Aufgabe, der sich auch die SGEMKO seit ihrer Gründung stets gewidmet hat.
Wichtig dabei war selbstverständlich, dass ich mich auf das Strassburger Urteil im Falle der fünf niederländischen Soldaten – ENGEL und andere – stützen konnte. Man tut in Strassburger Fällen gut daran, sich vorgängig intensiv mit der bereits bestehenden Rechtsprechung in Strassburg und auch mit internationaler Rechtsvergleichung zu beschäftigen und im Verfahren die dabei gewonnenen Erkenntnisse vorzutragen.
Man merke sich ausserdem: Ein wichtiges Prinzip der EMRK besteht darin, dass eine Beschwerde immer nur dann angenommen und behandelt werden kann, wenn die Rügen, welche man darin erhebt, schon vorher im nationalen Verfahren erhoben worden sind.
Im Fall SUTTER gegen die Schweiz ging es um den Tatbestand unbotmässigen Haarschnitts in einem militärischen Wiederholungskurs. Es war SUTTER schon vor der Dienstleistung ausdrücklich schriftlich befohlen worden, mit reglementsgerechtem Haarschnitt einzurücken. Weil er dies nicht tat, kam es zu einem regelrechten Militärstrafprozess, der mit einem Urteil des Militärkassationsgerichtes endete. Doch die Menschenrechtskommission erklärte alle materiellen Beschwerdepunkte, etwa, auch der Bürger in Uniform habe Anspruch auf Achtung seiner privaten Wahl des Haarschnitts, für offensichtlich unzulässig. [13]
Doch ich hatte auch gerügt, dass das Militärkassationsgericht sein Urteil nicht öffentlich verkündet hat. Auf diese Rüge ist die Kommission eingetreten, und schliesslich hat der Gerichtshof festgehalten, ein solches Gericht müsse zumindest das Urteil auf deiner Kanzlei öffentlich zugänglich halten. [14]
Neben der früher menschenrechtswidrigen Militärdisziplinarpraxis störte mich auch der Umstand, dass im Kanton Zürich im normalen Strafverfahren der damals als Untersuchungsrichter tätige Bezirksanwalt eigenmächtig Untersuchungshaft anordnen konnte. Er wurde ja im Laufe eine solchen Verfahrens in der Parteirolle des Anklägers Gegenspieler des Angeschuldigten. Dies widersprach damit der Anforderung an einer gerichtsähnliche Funktion diametral: Wer Partei ist, kann nicht zugleich Richter sein.
Im Fall SCHIESSER gegen die Schweiz stand ich in Kontakt mit dem ihn vertretenden Anwalt, um ihn bei seiner Beschwerde in Strassburg zu unterstützen. Doch am 12. Juli 1977 entschied die Menschenrechtskommission, die Schweiz habe dadurch, dass ein Bezirksanwalt den Beschwerdeführer in Haft genommen habe, die EMRK nicht verletzt, denn es sei nicht derselbe Bezirksanwalt gewesen, der später zum Ankläger wurde. [15]
Daraus leitet die Justiz im Kanton Zürich ab, die Rolle des Bezirksanwalts als Haft anordnender Beamter sei durch Strassburg definitiv bestätigt worden. Doch dem war nicht so. Denn am 23. Oktober 1990, also etwas mehr als 13 Jahre später, fällte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall JUTTA HUBER gegen die Schweiz ein definitives Urteil zu dieser Frage. [16] Er entschied, wenn ein die Haft anordnender Beamter später berechtigt sei, im anschliessenden Strafverfahren als Vertreter der Anklage aufzutreten, bestünden von Anfang an Zweifel an seiner Unparteilichkeit. Dies führte zur Verurteilung der Schweiz und damit zur Einführung des Haftrichters in jenen Kantonen, in welchen es diesen noch nicht gab. [17] [18]
Die erste Verurteilung der Schweiz in Strassburg datiert vom 25. März 1983, sie trägt meinen Namen: MINELLI gegen die Schweiz. [19]
Ich hatte als Journalist einen unseriösen Telefonbuchverleger in Artikeln in mehreren Zeitungen des gewerbsmässigen Betrugs bezichtigt und erklärt, der Mann gehöre hinter Schloss und Riegel. Er hatte jeweils Inserate für seine Telefonbücher akquiriert und behauptet, das Werk werde in grosser Anzahl verteilt; tatsächlich musste vermutet werden, dass er nur gerade etwas mehr als die Belegexemplare für die hereingefallenen Inserenten gedruckt hatte. Der Verleger und sein Verlag klagten mich wegen Ehrverletzung durch das Mittel der Presse ein. Dies gab mir nach der damals im Kanton Zürich geltenden Strafprozessordnung die Möglichkeit, das Begehren zu stellen, ich solle nicht durch das Bezirksgericht, sondern das Geschworenengericht beurteilt werden.
Das Verfahren zog sich lange dahin, vor allem weil die Ankläger das Verfahren gegen mich hatten sistieren lassen, bis ein ähnliches gegen einen "Blick"-Journalisten erledigt war. Vierzehn Tage vor Eintritt der absoluten Verjährung wollte der damalige Geschworenengerichtspräsident rasch die Verhandlung durchführen. Ich wehrte mich mit einer von vornherein aussichtslosen Staatsrechtlichen Beschwerde gegen die Zulassung der Anklage und erreichte so, dass die Sache absolut verjährte. Der Gerichtshof des Geschworenengerichtes beschloss in der Folge, mir zwei Drittel der Kosten des Verfahrens und eine reduzierte Prozessentschädigung an die Ankläger aufzuerlegen, mit der Begründung, dass ich sehr wahrscheinlich verurteilt worden wäre.
Gegen diese Verletzung der Unschuldsvermutung – Art. 6 Abs. 2 EMRK – führte ich sowohl am Kassations- als auch am Bundesgericht erfolglos Beschwerde. Die Beschwerde in Strassburg dagegen wurde sowohl von der Menschenrechtskommission als auch vom Gerichtshof einstimmig gutgeheissen. Damit wurde der in der Schweiz übliche sogenannte "Freispruch zweiter Klasse", nämlich Freispruch oder Einstellung des Verfahrens, aber Auferlegung von Kosten, stark eingeschränkt.
Zwei besondere Erfahrungen aus jener Sache habe ich in meinem Gedächtnis gespeichert:
- In der mündlichen Verhandlung vor der Menschenrechtskommission in Strassburg hatte mein damaliger Lehrer an der Universität, Prof. Dr. ROBERT HAUSER, Kommentator der zürcherischen Prozessgesetze, als vom Bund zu dessen Unterstützung mitgebrachtem Experten für Zürcher Strafprozessrecht, wahrheitswidrig behauptet, zufolge meiner Entscheidung, das Geschworenengericht zur Beurteilung zu berufen, hätten die Ankläger eine besondere Prozesskaution hinterlegen müssen. Tatsächlich jedoch sah die StPO vor, dass der Angeklagte, also ich, diese Kaution zu hinterlegen hatte. [20] Darauf wies ich die Kommission hin. Damit bestätigte sich, was ich schon früh von einem meiner Vorbilder, dem Migros-Gründer GOTTLIEB DUTTWEILER gelernt hatte: "Man muss die Reglemente kennen!"
- In der Auseinandersetzung vor dem Gerichtshof über die Frage, wie mich die Regierung zu entschädigen habe, falls der Gerichtshof eine Verletzung der EMRK feststellen sollte, argumentierte der damalige Vertreter des Bundesrates, ich würde als Generalsekretär der Schweizerischen Gesellschaft für die EMRK aufgrund der Mitglieder-Werbeanstrengungen der SGEMKO so viel Geld einnehmen, dass man mich gar nicht entschädigen müsse. Aus diesem Umstand zog ich die Lehre, dass Anwälte des Bundes vor den Strassburger Instanzen sich offensichtlich nicht scheuen, blanken Unsinn zu plädieren.
Das erinnert mich an eine Geschichte, die über den seit langem verstorbenen Zürcher Anwalt Dr. ADOLF SPÖRRI erzählt wurde, der seine Kanzlei am Stauffacher geführt hat. Er habe in einer Gerichtsverhandlung ein sehr nachdrücklich abwegiges Argument vorgebracht. Der Richter entschied schliesslich gegen seinen Klienten. Währenddem SPÖRRI und sein damaliger Gegenanwalt den Gerichtssaal verliessen und dem Ausgang zustrebten, habe der Gegenwalt (sic!) zu ihm gesagt "Herr Kollega, das war nun aber wirklich eine gewagte Behauptung, wie konnten Sie nur?" Darauf habe SPÖRRI mit erhobenem Zeigefinger geantwortet: "N'est-ce pas, le juge peut toujours se tromper!"
Von erheblicher Bedeutung für das schweizerische Rechtsleben war der Fall SCHULER-ZGRAGGEN gegen die Schweiz. Eines Tages kontaktierte mich Frau SCHULER. Sie hatte wenig vorher ein negatives Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts aus Luzern erhalten, mit welchem ihr sowohl die seit einigen Jahren ausbezahlte volle Invalidenrente als auch die für ihren Sohn ausgerichtete Invaliden-Kinderrente entzogen wurde. Auslöser war, dass sie vor der Geburt ihres Sohnes während vieler Jahre als Büromitarbeiterin in einem Industriebetrieb tätig gewesen war. Dann erkrankte sie an einer offenen Tuberkulose, und nach längerer Zeit, in welcher sie immer wieder von der Arbeit fernbleiben musste, wurde sie invalidisiert. Sie erhielt eine volle Invalidenrente. Nachdem sie sich verheiratet und dann einen Sohn geboren hatte, erfolgte eine Überprüfung ihrer Rente. Dabei kamen die IV-Stelle ihres Wohnkantons als auch die anschliessend angerufenen Sozialversicherungsgerichte zur Auffassung, nachdem sie nun für ein Baby zu sorgen habe, würde sie, wenn sie gesund wäre, die Erwerbsarbeit eingestellt haben. Als Hausfrau jedoch sei sie nicht invalid genug, um Anspruch auf eine Rente zu haben. Frau SCHULER fragte mich, ob man gegen dieses in der Schweiz endgültige Urteil vielleicht in Strassburg etwas erreichen könne.
Meine Antwort war, dass ich daran eher zweifle, doch meine ich, man müsste es jedenfalls versuchen. Das Ergebnis: sowohl Menschenrechtskommission als auch der Gerichtshof gaben Frau SCHULER Recht und verurteilten die Schweiz. [21] Für die Strassburger Instanzen war massgebend, dass Schweizer Gerichte einem Manne gegenüber niemals eine solche Begründung für den Entzug einer Invalidenrente gegeben hätten. Folgerichtig wurde erkannt, dass die Schweiz sich der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts schuldig gemacht habe.
Nun sind Strassburger Menschenrechtsurteile reine Feststellungsurteile: Es wird festgestellt, dass in einem bestimmten Fall der Vertragsstaat Schweiz seine Verpflichtung aus der EMRK verletzt habe. Für den Fall eines solchen Urteils sah das damalige Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege, das OG, in Artikel 139a vor, dass nach Vorliegen eines solchen eine Verletzung feststellenden Urteils innert 90 Tagen beim Gericht, dessen Urteil als die EMRK verletzend festgestellt worden ist, ein Revisionsbegehren eingereicht werden könne. Bezüglich des Verfahrens sah Art. 129a OG vor, dass das Bundesamt für Justiz einem Beschwerdeführer das Strassburger Urteil von Amtes wegen zuzustellen und auf diese Revisionsmöglichkeit hinzuweisen habe. [22]
Im neuen Bundesgerichtsgesetz, welches das OG abgelöst hat, regelt nun Art. 122 diese Materie. [23] Er verzichtet allerdings auf diese amtliche Zustellung und diesen Hinweis, der einer rechtsstaatlichen Rechtsmittelbegründung entspräche. Ein bedauerlicher Rückschritt!
Nachdem Frau SCHULER das Revisionsbegehren eingereicht hatte, hob das eidgenössische Versicherungsgericht seinen früheren Entscheid auf und bestätigte die IV-Renten für Frau SCHULER und ihren Sohn. Das hatte zur Folge, dass die zuständige Ausgleichskasse Frau SCHULER die unbezahlt gebliebenen Renten aus siebeneinhalb Jahren nachzuzahlen hatte.
Doch diese Zahlung erfolgte, ohne dass Verzugszinsen bezahlt wurden. So klagte ich wiederum zuerst in der Schweiz einen Anspruch auf Verzugszinsen ein und scheiterte wie vorausgesehen, denn der Bund hat in seinen Gesetzen keinen solchen Zinsanspruch vorgesehen. Eine dagegen gerichtete weitere Beschwerde in Strassburg hatte schliesslich zur Folge, dass der Strassburger Gerichtshof Frau SCHULER wenigstens noch rund die Hälfte der geschuldeten Zinsen zusprach und in seinem Urteil auf die Aussergewöhnlichkeit der Situation hinwies. [23] Dieser Fingerzeig hat bisher nicht dazu geführt, dass im innerstaatlichen Recht eine solche Zinsverpflichtung stipuliert worden wäre. Das ermuntert natürlich die IV und die Ausgleichskassen, derartige Prozesse zu führen, welche bei deren Verlust erst nach Jahren die Zahlung auslösen, ohne auch die aufgelaufenen Zinsen berücksichtigen zu müssen.
Gleichzeitig habe ich die Erfahrung gemacht, das die Richter in Strassburg sich offensichtlich wenig in Ökonomie auskennen; eine Begründung dafür, weswegen nur die Hälfte der üblichen Zinsen bezahlt werden musste, gab der Gerichtshof nicht.
Lassen Sie mich noch einen letzten Fall kurz schildern, der mir ganz besonders am Herzen gelegen hat.
HERMANN J. AMANN war in Deutschland geboren worden, war Kaufmann, siedelte in die Schweiz über und wurde schliesslich hier eingebürgert. Er bot in Frauenzeitschriften einen kleinen batteriebetriebenen Stift an, mit welchem eine metallische Spitze erhitzt werden konnte. Mit dieser heissen Spitze war es möglich, die Wurzel unerwünschter Haare, etwa im Gesicht, zu veröden. Eine Mitarbeiterin der damaligen Botschaft der Sowjetunion in Bern wählte die in den Inseraten angegebene Telefonnummer und bestellte einen solchen Stift, der ihr umgehend geliefert wurde.
Später, als im Gefolge des Kopp-Skandals die sogenannte "Fischenaffäre" [24] bekannt geworden war – kantonale und eidgenössische Behörden hatten jahrzehntelang geheime Aufzeichnungen über etwa 900'000 Personen in der Schweiz angelegt, angeblich, um den Staat vor gefährlichen Elementen zu schützen – verlangte HERMANN J. AMANN Einsicht in die über ihn geführte Fiche. Zu seiner grossen Verwunderung war dort zu lesen, er sei "Kontaktperson zur russ. Botschaft". Offensichtlich hatte der Schweizer Geheimdienst auch das harmlose Telefonat der von Gesichtshaarwuchs geplagten Sowjet-Sekretärin mit AMANN abgehört und fichiert.
AMANN, der zur Nazizeit in Konstanz selbst erlebt hatte, wie die Schergen Hitlers jüdische Mitbürger, mit denen er zur Schule gegangen war, abholten und in Konzentrationslager einlieferten, war schockiert. Wäre es zu einem Krieg zwischen dem sowjetischen Osten und dem demokratischen Westen in Europa gekommen, so sagte er mir, wäre er wahrscheinlich vom Schweizer Geheimdienst als mit den Sowjets konspirierender naturalisierter ehemaliger Deutscher ebenfalls abgeholt worden. Er wollte unbedingt, dass das Unrecht, welches ihm die Schweizer Behörden dadurch angetan hatten, auch gerichtlich als Unrecht anerkannt wurde. Deshalb beauftragte er mich, dagegen vorzugehen.
In der gesamten Fichenaffäre hat es das Schweizerische Bundesgericht in keinem Fall gewagt, zu erklären, das jahrzehntelange Handeln der Polizeibehörden habe einer gesetzlichen Grundlage ermangelt und sei deshalb rechtswidrig gewesen. Gegen derartige Ansinnen freiheitlich gesinnter Bürgerinnen und Bürger steht in der Schweiz noch immer die Figur der sogenannten Polizei-Generalklausel zur Verfügung, die von den Gerichten ungehemmt eingesetzt wird, um rechtswidrig handelnde Schweizer Behörden, insbesondere auch den Bundesrat, vor der Freiheit und den Menschenrechten der Bürgerinnen und Bürger zu schützen.
Der Fall AMANN wurde schliesslich ebenfalls nach Strassburg getragen, und das Verdickt der Strassburger Richter war einhellig: die damalige Grosse Kammer des Gerichtshofes mit 17 Richtern, an welche der Fall wegen seiner Bedeutung verweisen worden war, erklärte am 16. Februar 2000 einstimmig, Artikel 8 der EMRK sei verletzt worden, weil das fragliche Telefongespräch abgehört und weil eine Fiche angelegt und aufbewahrt worden sei. Kein allgemein zugängliches Gesetz der Schweiz habe den Bewohnern nahegelegt, annehmen zu müssen, dass ihre Telefone abgehört werden könnten. Anlage und Aufbewahrung der Fiche sei ein Eingriff in den Anspruch des Beschwerdeführers auf Respektierung seines Privatlebens gewesen, für welchen eine gesetzliche Grundlage gefehlt habe. [25]
Damit hatte HERMANN J. AMANN erreicht, was er wollte: Die Feststellung, dass die Schweiz ihm gegenüber im Fichenskandal die EMRK verletzt hat. Warum beschränke ich diese Aussage auf HERMANN J. AMANN? Weil Strassburger Recht stets "case law" ist; es wird immer nur über einen konkreten Fall entschieden, und jeder Fall kann anders liegen.
Worin liegt nun die Bedeutung dieser Strassburger Rechtsprechung für die Schweiz? Sie kompensiert sie (sic!) die Mängel der eidgenössischen Gerichtsbarkeit. Unsere Bundesrichter müssen sich alle sechs Jahre einer Wiederwahl stellen, und demzufolge sind sie nicht so unabhängig, wie sie sein sollten. Wir haben es in der Vereinigten Bundesversammlung 1990 – genau heute vor 21 Jahren! - erlebt, dass eine Mehrheit der 246 Parlamentarier einen Bundesrichter im ersten Anlauf nicht wiedergewählt haben, weil diese Mehrheit meinte, er sei allein für ein paar Urteile verantwortlich, die gewissen politischen Kreisen nicht gefallen haben. [26] Eine Woche später wurde der betreffende Richter dann dennoch wieder bestätigt... [27]
Derartige Vorkommnisse auf der politischen Ebene, die sich auf die Rechtsprechung auswirken, schaden sowohl dem Ansehen unserer Justiz als auch des Parlamentes, und da ist es wohltuend, zu wissen, dass über "Lausanne" zumindest in Fragen, die mit Menschenrechten zu tun haben, ein internationales Gericht wacht. Kein Wunder, dass die kurz vorher angesprochenen Kreise dann jeweils auch auf die Idee kommen, die EMRK solchen Ärgers wegen kündigen zu wollen.
Die Schweiz hat sich – spät genug! - wie die 46 anderen Länder, die zum Europarat gehören, dieser kollektiven Aufsicht über die Einhaltung eines Minimalkatalogs von Menschenrechten und Grundfreiheiten unterworfen und an der Wahl der Richter des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte teilgenommen. Als einzige Nation besetzt die Schweiz in diesem Gerichtshof zwei Sitze: Der Schweizer MARK E. VILLIGER, Titularprofessor an dieser Universität, ist für das Fürstentum Liechtenstein als Richter gewählt worden; HELEN KELLER, welche als Ordinaria an dieser Universität tätig gewesen ist, hält seit wenigen Wochen den Schweizer Richtersitz in Strassburg.
Dadurch, dass wir diese Instanzen anerkennen, bekunden wir, dass wir die Rechte und Freiheiten, welche die EMRK gewährleistet, hoch schätzen und damit einverstanden sind, dass gemeinsam mit dem Schweizer Richter jeweils auch von uns gewählte andre europäische Richter über behauptete Verletzungen durch Schweizer Behörden entscheiden. Indem wir auf diese Weise vor unserer eignen Türe den Platz sauber zu halten versuchen, erwerben wir erst den Anspruch, anderen Staaten gegenüber auf die Einhaltung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu pochen.
Das EMRK-System ist zwar in keiner Weise über alle Zweifel erhaben. Noch immer wird das Budget des Gerichtshofs von den Regierungen der EMRK-Staaten bestimmt – also von jenen, die für Verletzungen der EMRK jeweils die Verantwortung zu tragen haben. Seit Jahren halten die Regierungen, darunter nicht zuletzt auch unser Bundesrat, den Gerichtshof so knapp, dass die Last der unerledigten Beschwerden von Jahr zu Jahr rasant ansteigt. Ende 2010 waren nicht weniger als 139'630 Beschwerden in Strassburg hängig. Die Regierungen sind nicht bereit, den Gerichtshof finanziell und personell ausreichend auszustatten und unterminieren auf diese Weise seine Wirkung: Vordergründig tut man so, als ob man Menschenrechte schützen wolle; wo es einen als Staat selber treffen könnte, bleibt man knauserig. Besser wäre es möglicherweise, dieses Budget würde von Ausschüssen der nationalen Parlamente und nicht von den Regierungen kontrolliert.
Das Entscheidende ist aber: Nur auf der Eben der EMRK kommt den in Europa wohnenden Menschen in ihrer Eigenschaft als Rechtsunterworfene genau die gleiche Parteistellung zu, wie sie auf der Gegenseite der Regierung zukommt, gegen welche sich eine Beschwerde richtet.
Unbefriedigend ist, dass die Medien über die Tätigkeit des Gerichtshofes nur selten berichten, und noch seltener ist es, dass sie zutreffend berichten. Dazu wird man sich mit dem Satz von
GEORGE BERNARD SHAW zu trösten haben, der in seinem Stück
"The Doctor's Dilemma" gesagt hat: [29]
<<... eine Zeitung braucht ja nicht gemäss ihren Beschreibungen und Berichten zu handeln, sondern sie bloss an neugierige Faulpelze zu verkaufen, verliert also durch Ungenauigkeit und Unwahrhaftigkeit nur ihre Ehre...>>
(c) 2011 by Schweiz. Gesellschaft für die Europäische Menschenrechtskonvention (SGEMKO), 8127 Forch.
[Genehmigung durch den Autor für den hier vorgenommenen Nachdruck nach Art. 10 Abs. 2 lit. b/c URG liegt vor]
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[1] Diese Funktion übte ich von 1964 bis 1974 aus.
[2] Die "Travaux préparatoires" sind heute online zugänglich: www.echr.coe.int/library/colfrtravauxprep.html
(Verweist, Version vom 09.11.2012 verfügbar bei archive.org)
[3] National-Zeitung, 3. Januar 1974,
"Die Schweiz und die Menschenrechte (I) – Die europäische Konvention";
National-Zeitung 4. Januar 1974,
"Die Schweiz und die Menschenrechte (II) – Der Strassburger Rechtsschutz";
National-Zeitung 5. Januar 1974,
"Die Schweiz und die Menschenrechte (III) – Gütliche Regelungen herrschen vor";
National-Zeitung, 7. Januar 1974,
"Die Schweiz und die Menschenrechte (IV) – Rasche Ratifizierung tut not"
[4] Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte EGMR) (sic!) im Fall: Belilos gegen die Schweiz vom 29. April 1988
[5] Urteil des EGMR im Falle ENGEL und andere gegen die Niederlande vom 8. Juni 1976 ("Five Soldiers")
[6] European Commission of Human Rights, Decisions and Reports (DR) Nr. 6, S. 170ff.
[7] DR Nr. 15 S 35ff.
[8] DR Nr. 31, S. 5ff.
[9] Urteil des Bundesgerichts vom 12. November 1976 in Sachen Herbert Eggs gegen den Oberauditor der Armee, unveröffentlicht
[10] 1977 Année politique Suisse / Schweizerische Politik, Bern 1978, S. 52f.; BBl 1977 I, 1129; BBl 1977 II, 1;
[11] Amtl. Bull. NR 3. Mai 1977
[12] BBl 1979 I, 606
[13] Entscheid der Kommission vom 11. Juli 1979
[14] Urteil des EGMR im Fall
SUTTER gegen die Schweiz vom 22. Februar 1984
[15] Urteil des EGMR im Fall
SCHIESSER gegen die Schweiz vom 4. Dezember 1979
[16] Urteil des EGMR im Fall
JUTTA HUBER gegen die Schweiz vom 23. Oktober 1990
[17] Die Bezeichnung "Haftrichter" sollte richtigerweise durch den Begriff "Freiheitsrichter" ersetzt werden: Es ist wichtigste Aufgabe dieser richterlichen Funktion, darüber zu entscheiden ob jemandem die Freiheit entzogen werden darf, nicht, ob Haft anzuordnen sei. Noch immer wird in der Schweiz viel zu zu (sic!) schnell und viel zu viel Haft angeordnet, was bedeutet, dass die "Haftrichter" ihrer Aufgabe, die Freiheit der Bürger zu schützen, nur unvollkommen nachkommen.
[18] Als Beispiel aus dem Kanton Zürich OS 51, S. 456, § 24a StPO
[19] Urteil des EGMR im Fall
MINELLI gegen die Schweiz vom 25. März 1983
[20] Früherer § 306 Abs. 1 StPO: Der Geschworenengerichtspräsident setzt der Partei, welche die Beurteilung durch das Geschworenengericht verlangt hat, Frist an, um für die Prozesskosten, inbegriffen die Zeugengebühren, Sicherstellung für den Fall des Unterliegens zu leisten.
[21] Urteil des EGMR im Fall SCHULER-ZGRAGGEN gegen die Schweiz vom 24. Juni 1993
[22] BBl 1991 III, 1423f., Art. 139a und 141 Abs. 1 Bst. C
[23] Urteil des EGMR im Fall SCHULER-ZGRAGGEN vom 31. Januar 1995
[24] siehe Hinweise auf amtliche Berichte und private Veröffentlichungen in Wikipedia unter <<Fichenskandal>>
[25] Urteil des EGMR im Fall
AMANN gegen die Schweiz vom 16. Februar 2000
[26] Amtl. Bulletin der Vereinigten Bundesversammlung vom 5. Dezember 1990
[27] Amtl. Bulletin der Vereinigten Bundesversammlung vom 12. Dezember 1990
Abschrift des Vortrags, gehalten an der Universität Zürich am 5. Dezember 2011 von Ludwig A. Minelli, Rechtsanwalt und Generalsekretär der Schweizerischen Gesellschaft für die Europäische Menschenrechtskonvention (SGEMKO)
Persönliche Erfahrungen als Klägervertreter in Verfahren gegen die Schweiz in Strassburg.
Sehr verehrte Damen und Herren
Für ihre freundliche Einladung, in Ihrem Kreise etwas über die persönlichen Erfahrungen als Klägervertreter in Verfahren gegen die Schweiz in Strassburg zu erzählen, danke ich herzlich.
Lassen Sie mich die folgende Warnung vorausschicken: Wer nicht möchte, dass Kenntnisse über die Europäische Menschenrechtskonvention – abgekürzt EMRK – zu Veränderungen in seinem Leben führen, hat jetzt noch Gelegenheit, den Raum zu verlassen.
Ich äussere diese Warnung nicht grundlos.
Vor etwas mehr als 38 Jahren, am Abend des 29. November 1973, um 20 Uhr, fand ich mich im Zürcher Zunfthaus zur Zimmerleuten ein. Dort hatte der zürcherische Juristenverein zu einem Vortrag des Berner Öffentlichrechtlers JÖRG PAUL MÜLLER geladen. Und dessen Vortrag hiess genau so, wie der Obertitel zu dieser Veranstaltungsreihe heisst: Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz
Damals war ich hauptberuflich als Journalist tätig, als erster Schweizer Korrespondent des deutschen Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL. [1]
Die Ausführungen Müllers zeigten mir, dass die EMRK ein Instrument im Sinne eines archimedischen Hebels darstellt, welches, am archimedischen Punkte Strassburg angesetzt, erlaubt, Dinge in der Schweiz zu bewegen. Ich war buchstäblich elektrisiert.
In der Folge wandte ich mich an den Europarat in Strassburg und bat darum, mir Material über die EMRK zuzustellen. Bald traf eine umfangreiche Sendung ein; sie enthielt auch die auf nachkriegsbedingt holzhaltiges Papier hektographierten "Travaux préparatoires", die später äusserst selten und gesucht waren. [2]
Bereits wenige Wochen später, zwischen dem 3. und dem 7. Januar 1974, veröffentlichte ich in der Basler "National-Zeitung" - der Vorläuferin der "Basler Zeitung" - und andren Blättern, eine vierteilige Serie über die EMRK. [3]
Ein Jahr minus einen Tag nach dem Vortrag von JÖRG PAUL MÜLLER in Zürich ratifizierte die Schweiz die EMRK; sie ist somit am 28. November 1974 in Kraft getreten.
Am Wochenende des 30./31. August 1975 veranstalteten die deutschschweizerischen Rechtsfakultäten eine Tagung über die EMRK in Neuenburg. Die Organisation lag in den Händen des damaligen Assistenten von Prof. DIETRICH SCHINDLER jun., DANIEL THÜRER. Auch an jener Tagung nahm ich als interessierter Journalist teil. Am Samstagabend wurden die Teilnehmer aufgefordert, allfällige Fragen für das Kolloquium des Sonntagmorgens in eine Schachtel zu legen. Im Kolloquium zeigte sich, dass die Hälfte aller Fragen von mir stammten; sie nahmen dreiviertel der Zeit in Anspruch.
Als in der Debatte jemand den Vorschlag machte, der Bund sollte ein Büro einrichten, welches die Bürgerinnen und Bürger bei EMRK-Fragen beraten könne, machte ich sofort entschieden Opposition: Es ist doch ausgeschlossen, dass der mutmassliche Verletzer von Menschenrechten die Verletzten berät! Die sei, so meinte ich, eine Aufgabe, die privat geleistet werden müsse. Das war der Ausgangspunkt zur Gründung der Schweizerischen Gesellschaft für die Europäische Menschenrechtskonvention (SGEMKO). Diese habe ich dann am 1. September 1977 gegründet.
Bei einem nach der Neuenburger Tagung erfolgten Besuch von JÖRG PAUL MÜLLER bei mir auf der Forch, wo ich seit 1968 wohne, sagte er mir wörtlich: "Sie söttid no studiere!".
Ich warf ein: "Wohl, um grössere Satzkosten bei der Visitenkarte zu haben!". Doch dann folgte ich seinem Vorschlag, immatrikulierte mich ab Wintersemester 1976/77 an der Alma Mater Turiciensis und schloss am 18. Februar 1981 mit dem lic. iur. ab. Sechs Jahre später, im Alter von 54 Jahren, legte ich schliesslich auch die Anwaltsprüfung ab.
Auf diese Weise hat die EMRK bei mir die Weiche in meinem beruflichen Leben gestellt; ich war vom Journalisten zum Anwalt geworden. Ich warne somit nochmals:
Vorsicht, die EMRK kann Ihr Leben verändern!
Nach dem Inkrafttreten der EMRK war ich daran interessiert, dieser in der Schweiz möglichst rasch Aufmerksamkeit und Wirksamkeit zu verschaffen: Es hatte nach Zustandekommen der EMRK im Jahre 1950 ohnehin 24 Jahre gedauert, bis sich die Schweiz dazu hatte bequemen können, diesem Vertragswerk beizutreten, und dies erst noch mit zahlreichen Vorbehalten, die später meist als ungültig wegfielen. [4]
Als äusserst geeignet für ein Verfahren gegen die Schweiz erachtete ich die damals absolut rückständige Verfahrensordnung im Disziplinarrecht der Schweizer Armee.
Als wieder einmal ein Soldat einen scharfen Arrest von fünf Tagen aufgebrummt erhielt, schlug ich diesem vor, dass ich ihm bei seinen Beschwerden helfe, um so ein Verfahren einzuleiten, mit welchem den Strassburger Instanzen der EMRK Gelegenheit geboten wurde, zum Militärdisziplinarwesen in der Schweiz Stellung zu beziehen.
Am 8. Juni 1976 nämlich hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einer ähnlichen Sache gegen die Niederlande ein Urteil gefällt und darin festgehalten, dass Militärarrest, obwohl eine Disziplinarstrafe, einen Freiheitsentzug darstellt, so dass darauf der Artikel 5 – Recht auf Freiheit und Sicherheit – Anwendung finden muss. Dieser verlangt für Freiheitsentzug einer richterliche Entscheidung, was damals auch in den Niederlanden nicht gewährleistet war. [5]
Der Basler HERBERT EGGS befand sich Herbst 1975 in der Rekrutenschule. Dort wurde ihm vom Instruktionshauptmann am 6. November ein scharfer Arrest von fünf Tagen auferlegt, weil er einen an ihn ergangenen Befehl, den er für ungerecht hielt, nicht nachgekommen war. Dagegen beschwerte er sich schriftlich beim Schulkommandanten, der die Beschwerde am 7. November abwies. Mit Weiterzugsbeschwerde vom 15. November wandte er sich an den Oberauditor der Armee und berief sich dort ausdrücklich auf Artikel 5 Absatz 4 der EMRK, der jeder Person, welcher die Freiheit entzogen wird, den Anspruch verleiht, dass ein Gericht raschmöglichst über die Rechtmässigkeit der Haft entscheidet und im Fall der Widerrechtlichkeit die Entlassung angeordnet, sowie auf Artikel 13 der EMRK, welcher den Anspruch auf auf eine wirksame Beschwerde bei Verletzung eines EMRK-Anspruchs garantiert.
Doch auch der Oberauditor – der oberste Ankläger der Armee, dem auch im Rahmen der Militärjustiz Verwaltungsaufgaben oblagen – wies am 27. November seine Beschwerde ab. Gegen diesen Entscheid gab es kein weiteres nationales Rechtsmittel, schon gar nicht an ein Gericht.
Nachdem EGGS inzwischen die Rekrutenschule abgeschlossen hatte, wurde er am 16. Dezember 1975 aufgefordert, die verhängte Disziplinarstrafe abzusitzen. Tatsächlich fand dies dann zwischen dem 19. und dem 21. Januar 1976 statt.
Ich formulierte EGGS Beschwerte an die damals als erste Instanz zuständige Europäische Menschenrechtskommission in Strassburg. Sie wurde von EGGS am 29. Dezember 1975 eingereicht. Darin wurde nicht nur der Umstand gerügt, dass er nie die Möglichkeit gehabt hatte, den Entzug seiner Freiheit durch ein Gericht überprüfen zu lassen. Moniert wurden auch zusätzliche Punkte, nämlich:
die unterschiedlichen Ausgestaltung des scharfen Arrests je nach dem, ob es sich um einen Offizier oder einen Soldaten handelt, was als Diskriminierung auszulegen sei; sowie Mängel im Vollzug des Arrests, die in den Augen des Beschwerdeführers den vom Ministerkomitee des Europarates proklamierten Mindestanforderungen für die Behandlung von Gefangenen zuwiderliefen. Jeder solche Mangel sollte als Verletzung von Artikel 3 der Konvention betrachtet werden; sodann habe das Lokal, in welchem der Arrest vollzogen wurde, den Anforderungen von Artikel 188 des damaligen Militärstrafgesetzes nicht entsprochen.
Es erscheint mir wichtig, in Fällen, die nach "Strassburg" gehen, jeweils möglichst viele Rechtsfragen aufzuwerfen. Allerdings: Diese sollten schon in den vorausgehenden nationalen Verfahren aufgeworfen werden. Deshalb empfiehlt es sich, bei jedem Fall schon vor der ersten nationalen Instanz und dann immer wieder zuallererst zu überprüfen, ob und allenfalls welche Garantien der EMRK verletzt sein könnten.
Die Menschenrechtskommission beschloss am 20. Mai 1976, die Beschwerde der Schweizer Regierung zur Stellungnahme zuzustellen. Die Kommission hielt in ihrem Bericht zur Zulässigkeit der Beschwerde vom 11. Dezember 1976 fest, die Beschwerdepunkte betreffend die Bedingungen des Arrestvollzuges seien offensichtlich unbegründet; im übrigen sei die Beschwerde zulässig. [6]
Das war das erste Mal, dass gegen die Schweiz in Strassburg eine Beschwerde zugelassen wurde.
Am 13. Juli 1977 führte die Kommission noch im alten Gebäude der Menschenrechtsinstanzen in Strassburg eine mündliche Verhandlung durch. Ich bat meinen Freund, Rechtsanwalt Dr. MANFRED KUHN, HERBERT EGGS formell anwaltlich zu vertreten und mich als seinen Assistenten an diese Verhandlung mitzubringen, was auch so geschah. Die Schweizer Regierung wurde von JOSEPH VOYAME, damals Direktor des Bundesamts für Justiz, vertreten; seiner Delegation gehörten zudem Frau Dr. GRET HALLER, Juristen im Bundesamt für Justiz, sowie Dr. MARC VIROT, Abteilungschef im Eidgenössischen Militärdepartement (EMD) an.
Am 4. März 1978 schloss die Kommission den Fall ab. Sie war mit 12 gegen 2 Stimmen der Ansicht, die Schweiz habe Artikel 5 Absatz 1 EMRK verletzt, weil dem Oberauditor der Armee eine Qualifikation als Gericht fehle. Das bedeute, dass dem Beschwerdeführer die Freiheit in Verletzung der EMRK entzogen worden sei.
In Bezug auf seinen Anspruch auf gerichtliche Beurteilung fand die Kommission, im Amt des Oberauditors herrsche eine Vermischung von Kompetenzen, welche mit den Anforderungen an ein gerichtliches Organ schwerlich vereinbar sei; er sei unmittelbarer Vorgesetzter der militärischen Untersuchungsrichter und der Auditoren (also der Ankläger vor den Militärgerichten), und dergleichen mehr. Demzufolge könne der Oberauditor nicht einem <> gleichgeachtet werden. Damit sei der Freiheitsentzug schon nach Absatz 1 von Artikel 5 EMRK nicht gerechtfertigt gewesen. [7]
Da die Schweiz diesen Bericht der Kommission nicht beim Gerichtshof anfocht und Beschwerdeführern unter der damals gültigen Form der EMRK eine solche Befugnis nicht zustand, hätte nun der Ministerkomitee des Europarates definitiv entscheiden sollen, ob die Schweiz im Fall EGGS die EMRK verletzt hat oder nicht. Damals war für derartige Entscheidungen im Ministerkomitee jeweils eine Zweidrittelmehrheit notwendig. Da weder für noch gegen eine Verletzung eine Zweidrittelmehrheit zustande gekommen war, blieb der Fall in der Schwebe und damit unentschieden, was vollständig unbefriedigend war.
Parallel zum Fall EGGS stand ich stets in Verbindung mit einer Organisation, welche sich um die Rechte von Soldaten kümmerte. In diesem Zusammenhang reichte ich als Vertreter von PETER HERZIG am 24. Mai 1977 eine Beschwerde wegen scharfen Arrests bei der Menschenrechtskommission ein. Diese Beschwerde führte zusammen mit fünf anderen unter dem Namen "SANTSCHI und andere gegen die Schweiz" am 13. Oktober 1981 zur Meinungsäusserung der Kommission, auch in diesen Fällen sei Artikel 5 Absatz 1 EMRK verletzt worden. Sie schlug vor, die Beschwerdeführer mit Zahlungen zwischen 100 und 250 Franken zu entschädigen. [8]
In diesen Fällen hat dann das Ministerkomitee des Europarates den Bericht der Kommission zu seinem Entscheid gemacht.
Das hielt ich nun bezüglich des Falles von HERBERT EGGS für unfair und leitete vor einheimischen Instanzen ein Verfahren ein, welches darauf abzielte, auch ihn zu entschädigen. National hatte ich damit keinen Erfolg, wandte mich aber anschliessend erneut an die Menschenrechtskommission. Dies führte zu Vergleichsgesprächen zwischen der Schweiz und mir im Hotel Bern in Bern unter dem Vorsitz des damaligen Schweizer Vertreters in der Menschenrechtskommission, STEFAN TRECHSEL, mit dem Ergebnis, dass wir uns gütlich geeinigt haben. Die Schweiz entschädigte dann auch HERBERT EGGS. Die Unterlagen zum Fall EGGS sind im Übrigen im Schweizerischen Sozialarchiv in Zürich einzusehen. [9]
Im Zusammenhang mit Fall EGGS sorgte ich durch ein Verfahren wegen Freiheitsberaubung im Amt gegen den damaligen Oberauditor der Armee, ERNST LOHNER, dafür, dass dieser während einer beträchtlichen Zeit keine Weiterzugsbeschwerden gegen militärische Arreststrafen entschieden hat. Das Bundesgericht hat ihn dann zwar mit einer frei erfundenen Behauptung vor Bestrafung bewahrt, doch sass der Schock bei ihm tief. [9] (sic!)
Der Bundesrat unterbreitete auf Antrag von Bundesrat RUDOLF GNÄGI, damals Chef des EMD, dem Parlament in der Folge eine dringende Vorlage zur Änderung des Militärdiszilinarrechts. [10] (sic!) Sie wurde im Nationalrat gestoppt [11], und erst mit einer späteren Vorlage kam es dann zur Anpassung des Rechts an die Strassburger Anforderungen. [12]
Mit der Anpassung wurden Ausschüsse der Militär-Appellationsgerichte eingeführt und diese für die Behandlung von Weiterzugsbeschwerden gegen militärische Arreststrafen für zuständig erklärt. Somit hat seither eine solche Weiterzugsbeschwerde stets aufschiebende Wirkung, wobei regelmässig ein rechtskräftiger Entscheid erst nach Abschluss der betreffenden Dienstleistung erfolgen konnte. Damit fiel die früher meist beabsichtigte zusätzliche negative Auswirkung für den disziplinarisch Bestraften weg, dass er zufolge einer während der Dienstleistung vollstreckten Artreststrafe die in jenem Dienst bereits geleisteten Diensttage "verloren" hat.
Das hat selbstverständlich die Libido der Kommandanten, denen die Arrest-Strafkompetenz nach wie vor zusteht, schwer beeinträchtigt, so dass die Verhängung von scharfem Arrest in der Folge stark zurückgegangen sein dürfte.
An diesem Beispiel ist zu ersehen, dass eine volle Durchsetzung der EMRK in einem bestimmten Bereich nicht allein durch Erstreiten eines Strassburger Entscheides zu erreichen sein dürfte. Es bedarf immer und immer wieder auch des phantasievollen Einsatzes anderer rechtlicher und politischer Möglichkeiten, um letztendlich das gesteckte Ziel zu erreichen.
Die hohe Aufmerksamkeit, welche dieses besondere Strassburger "Arrestverfahren" in den Schweizer Medien gefunden hat, half stark mit, das Wissen um die Existenz der EMRK und ihrer Strassburger Institutionen rasch allgemein werden zu lassen – eine Aufgabe, der sich auch die SGEMKO seit ihrer Gründung stets gewidmet hat.
Wichtig dabei war selbstverständlich, dass ich mich auf das Strassburger Urteil im Falle der fünf niederländischen Soldaten – ENGEL und andere – stützen konnte. Man tut in Strassburger Fällen gut daran, sich vorgängig intensiv mit der bereits bestehenden Rechtsprechung in Strassburg und auch mit internationaler Rechtsvergleichung zu beschäftigen und im Verfahren die dabei gewonnenen Erkenntnisse vorzutragen.
Man merke sich ausserdem: Ein wichtiges Prinzip der EMRK besteht darin, dass eine Beschwerde immer nur dann angenommen und behandelt werden kann, wenn die Rügen, welche man darin erhebt, schon vorher im nationalen Verfahren erhoben worden sind.
Im Fall SUTTER gegen die Schweiz ging es um den Tatbestand unbotmässigen Haarschnitts in einem militärischen Wiederholungskurs. Es war SUTTER schon vor der Dienstleistung ausdrücklich schriftlich befohlen worden, mit reglementsgerechtem Haarschnitt einzurücken. Weil er dies nicht tat, kam es zu einem regelrechten Militärstrafprozess, der mit einem Urteil des Militärkassationsgerichtes endete. Doch die Menschenrechtskommission erklärte alle materiellen Beschwerdepunkte, etwa, auch der Bürger in Uniform habe Anspruch auf Achtung seiner privaten Wahl des Haarschnitts, für offensichtlich unzulässig. [13]
Doch ich hatte auch gerügt, dass das Militärkassationsgericht sein Urteil nicht öffentlich verkündet hat. Auf diese Rüge ist die Kommission eingetreten, und schliesslich hat der Gerichtshof festgehalten, ein solches Gericht müsse zumindest das Urteil auf deiner Kanzlei öffentlich zugänglich halten. [14]
Neben der früher menschenrechtswidrigen Militärdisziplinarpraxis störte mich auch der Umstand, dass im Kanton Zürich im normalen Strafverfahren der damals als Untersuchungsrichter tätige Bezirksanwalt eigenmächtig Untersuchungshaft anordnen konnte. Er wurde ja im Laufe eine solchen Verfahrens in der Parteirolle des Anklägers Gegenspieler des Angeschuldigten. Dies widersprach damit der Anforderung an einer gerichtsähnliche Funktion diametral: Wer Partei ist, kann nicht zugleich Richter sein.
Im Fall SCHIESSER gegen die Schweiz stand ich in Kontakt mit dem ihn vertretenden Anwalt, um ihn bei seiner Beschwerde in Strassburg zu unterstützen. Doch am 12. Juli 1977 entschied die Menschenrechtskommission, die Schweiz habe dadurch, dass ein Bezirksanwalt den Beschwerdeführer in Haft genommen habe, die EMRK nicht verletzt, denn es sei nicht derselbe Bezirksanwalt gewesen, der später zum Ankläger wurde. [15]
Daraus leitet die Justiz im Kanton Zürich ab, die Rolle des Bezirksanwalts als Haft anordnender Beamter sei durch Strassburg definitiv bestätigt worden. Doch dem war nicht so. Denn am 23. Oktober 1990, also etwas mehr als 13 Jahre später, fällte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall JUTTA HUBER gegen die Schweiz ein definitives Urteil zu dieser Frage. [16] Er entschied, wenn ein die Haft anordnender Beamter später berechtigt sei, im anschliessenden Strafverfahren als Vertreter der Anklage aufzutreten, bestünden von Anfang an Zweifel an seiner Unparteilichkeit. Dies führte zur Verurteilung der Schweiz und damit zur Einführung des Haftrichters in jenen Kantonen, in welchen es diesen noch nicht gab. [17] [18]
Die erste Verurteilung der Schweiz in Strassburg datiert vom 25. März 1983, sie trägt meinen Namen: MINELLI gegen die Schweiz. [19]
Ich hatte als Journalist einen unseriösen Telefonbuchverleger in Artikeln in mehreren Zeitungen des gewerbsmässigen Betrugs bezichtigt und erklärt, der Mann gehöre hinter Schloss und Riegel. Er hatte jeweils Inserate für seine Telefonbücher akquiriert und behauptet, das Werk werde in grosser Anzahl verteilt; tatsächlich musste vermutet werden, dass er nur gerade etwas mehr als die Belegexemplare für die hereingefallenen Inserenten gedruckt hatte. Der Verleger und sein Verlag klagten mich wegen Ehrverletzung durch das Mittel der Presse ein. Dies gab mir nach der damals im Kanton Zürich geltenden Strafprozessordnung die Möglichkeit, das Begehren zu stellen, ich solle nicht durch das Bezirksgericht, sondern das Geschworenengericht beurteilt werden.
Das Verfahren zog sich lange dahin, vor allem weil die Ankläger das Verfahren gegen mich hatten sistieren lassen, bis ein ähnliches gegen einen "Blick"-Journalisten erledigt war. Vierzehn Tage vor Eintritt der absoluten Verjährung wollte der damalige Geschworenengerichtspräsident rasch die Verhandlung durchführen. Ich wehrte mich mit einer von vornherein aussichtslosen Staatsrechtlichen Beschwerde gegen die Zulassung der Anklage und erreichte so, dass die Sache absolut verjährte. Der Gerichtshof des Geschworenengerichtes beschloss in der Folge, mir zwei Drittel der Kosten des Verfahrens und eine reduzierte Prozessentschädigung an die Ankläger aufzuerlegen, mit der Begründung, dass ich sehr wahrscheinlich verurteilt worden wäre.
Gegen diese Verletzung der Unschuldsvermutung – Art. 6 Abs. 2 EMRK – führte ich sowohl am Kassations- als auch am Bundesgericht erfolglos Beschwerde. Die Beschwerde in Strassburg dagegen wurde sowohl von der Menschenrechtskommission als auch vom Gerichtshof einstimmig gutgeheissen. Damit wurde der in der Schweiz übliche sogenannte "Freispruch zweiter Klasse", nämlich Freispruch oder Einstellung des Verfahrens, aber Auferlegung von Kosten, stark eingeschränkt.
Zwei besondere Erfahrungen aus jener Sache habe ich in meinem Gedächtnis gespeichert:
- In der mündlichen Verhandlung vor der Menschenrechtskommission in Strassburg hatte mein damaliger Lehrer an der Universität, Prof. Dr. ROBERT HAUSER, Kommentator der zürcherischen Prozessgesetze, als vom Bund zu dessen Unterstützung mitgebrachtem Experten für Zürcher Strafprozessrecht, wahrheitswidrig behauptet, zufolge meiner Entscheidung, das Geschworenengericht zur Beurteilung zu berufen, hätten die Ankläger eine besondere Prozesskaution hinterlegen müssen. Tatsächlich jedoch sah die StPO vor, dass der Angeklagte, also ich, diese Kaution zu hinterlegen hatte. [20] Darauf wies ich die Kommission hin. Damit bestätigte sich, was ich schon früh von einem meiner Vorbilder, dem Migros-Gründer GOTTLIEB DUTTWEILER gelernt hatte: "Man muss die Reglemente kennen!"
- In der Auseinandersetzung vor dem Gerichtshof über die Frage, wie mich die Regierung zu entschädigen habe, falls der Gerichtshof eine Verletzung der EMRK feststellen sollte, argumentierte der damalige Vertreter des Bundesrates, ich würde als Generalsekretär der Schweizerischen Gesellschaft für die EMRK aufgrund der Mitglieder-Werbeanstrengungen der SGEMKO so viel Geld einnehmen, dass man mich gar nicht entschädigen müsse. Aus diesem Umstand zog ich die Lehre, dass Anwälte des Bundes vor den Strassburger Instanzen sich offensichtlich nicht scheuen, blanken Unsinn zu plädieren.
Das erinnert mich an eine Geschichte, die über den seit langem verstorbenen Zürcher Anwalt Dr. ADOLF SPÖRRI erzählt wurde, der seine Kanzlei am Stauffacher geführt hat. Er habe in einer Gerichtsverhandlung ein sehr nachdrücklich abwegiges Argument vorgebracht. Der Richter entschied schliesslich gegen seinen Klienten. Währenddem SPÖRRI und sein damaliger Gegenanwalt den Gerichtssaal verliessen und dem Ausgang zustrebten, habe der Gegenwalt (sic!) zu ihm gesagt "Herr Kollega, das war nun aber wirklich eine gewagte Behauptung, wie konnten Sie nur?" Darauf habe SPÖRRI mit erhobenem Zeigefinger geantwortet: "N'est-ce pas, le juge peut toujours se tromper!"
Von erheblicher Bedeutung für das schweizerische Rechtsleben war der Fall SCHULER-ZGRAGGEN gegen die Schweiz. Eines Tages kontaktierte mich Frau SCHULER. Sie hatte wenig vorher ein negatives Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts aus Luzern erhalten, mit welchem ihr sowohl die seit einigen Jahren ausbezahlte volle Invalidenrente als auch die für ihren Sohn ausgerichtete Invaliden-Kinderrente entzogen wurde. Auslöser war, dass sie vor der Geburt ihres Sohnes während vieler Jahre als Büromitarbeiterin in einem Industriebetrieb tätig gewesen war. Dann erkrankte sie an einer offenen Tuberkulose, und nach längerer Zeit, in welcher sie immer wieder von der Arbeit fernbleiben musste, wurde sie invalidisiert. Sie erhielt eine volle Invalidenrente. Nachdem sie sich verheiratet und dann einen Sohn geboren hatte, erfolgte eine Überprüfung ihrer Rente. Dabei kamen die IV-Stelle ihres Wohnkantons als auch die anschliessend angerufenen Sozialversicherungsgerichte zur Auffassung, nachdem sie nun für ein Baby zu sorgen habe, würde sie, wenn sie gesund wäre, die Erwerbsarbeit eingestellt haben. Als Hausfrau jedoch sei sie nicht invalid genug, um Anspruch auf eine Rente zu haben. Frau SCHULER fragte mich, ob man gegen dieses in der Schweiz endgültige Urteil vielleicht in Strassburg etwas erreichen könne.
Meine Antwort war, dass ich daran eher zweifle, doch meine ich, man müsste es jedenfalls versuchen. Das Ergebnis: sowohl Menschenrechtskommission als auch der Gerichtshof gaben Frau SCHULER Recht und verurteilten die Schweiz. [21] Für die Strassburger Instanzen war massgebend, dass Schweizer Gerichte einem Manne gegenüber niemals eine solche Begründung für den Entzug einer Invalidenrente gegeben hätten. Folgerichtig wurde erkannt, dass die Schweiz sich der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts schuldig gemacht habe.
Nun sind Strassburger Menschenrechtsurteile reine Feststellungsurteile: Es wird festgestellt, dass in einem bestimmten Fall der Vertragsstaat Schweiz seine Verpflichtung aus der EMRK verletzt habe. Für den Fall eines solchen Urteils sah das damalige Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege, das OG, in Artikel 139a vor, dass nach Vorliegen eines solchen eine Verletzung feststellenden Urteils innert 90 Tagen beim Gericht, dessen Urteil als die EMRK verletzend festgestellt worden ist, ein Revisionsbegehren eingereicht werden könne. Bezüglich des Verfahrens sah Art. 129a OG vor, dass das Bundesamt für Justiz einem Beschwerdeführer das Strassburger Urteil von Amtes wegen zuzustellen und auf diese Revisionsmöglichkeit hinzuweisen habe. [22]
Im neuen Bundesgerichtsgesetz, welches das OG abgelöst hat, regelt nun Art. 122 diese Materie. [23] Er verzichtet allerdings auf diese amtliche Zustellung und diesen Hinweis, der einer rechtsstaatlichen Rechtsmittelbegründung entspräche. Ein bedauerlicher Rückschritt!
Nachdem Frau SCHULER das Revisionsbegehren eingereicht hatte, hob das eidgenössische Versicherungsgericht seinen früheren Entscheid auf und bestätigte die IV-Renten für Frau SCHULER und ihren Sohn. Das hatte zur Folge, dass die zuständige Ausgleichskasse Frau SCHULER die unbezahlt gebliebenen Renten aus siebeneinhalb Jahren nachzuzahlen hatte.
Doch diese Zahlung erfolgte, ohne dass Verzugszinsen bezahlt wurden. So klagte ich wiederum zuerst in der Schweiz einen Anspruch auf Verzugszinsen ein und scheiterte wie vorausgesehen, denn der Bund hat in seinen Gesetzen keinen solchen Zinsanspruch vorgesehen. Eine dagegen gerichtete weitere Beschwerde in Strassburg hatte schliesslich zur Folge, dass der Strassburger Gerichtshof Frau SCHULER wenigstens noch rund die Hälfte der geschuldeten Zinsen zusprach und in seinem Urteil auf die Aussergewöhnlichkeit der Situation hinwies. [23] Dieser Fingerzeig hat bisher nicht dazu geführt, dass im innerstaatlichen Recht eine solche Zinsverpflichtung stipuliert worden wäre. Das ermuntert natürlich die IV und die Ausgleichskassen, derartige Prozesse zu führen, welche bei deren Verlust erst nach Jahren die Zahlung auslösen, ohne auch die aufgelaufenen Zinsen berücksichtigen zu müssen.
Gleichzeitig habe ich die Erfahrung gemacht, das die Richter in Strassburg sich offensichtlich wenig in Ökonomie auskennen; eine Begründung dafür, weswegen nur die Hälfte der üblichen Zinsen bezahlt werden musste, gab der Gerichtshof nicht.
Lassen Sie mich noch einen letzten Fall kurz schildern, der mir ganz besonders am Herzen gelegen hat.
HERMANN J. AMANN war in Deutschland geboren worden, war Kaufmann, siedelte in die Schweiz über und wurde schliesslich hier eingebürgert. Er bot in Frauenzeitschriften einen kleinen batteriebetriebenen Stift an, mit welchem eine metallische Spitze erhitzt werden konnte. Mit dieser heissen Spitze war es möglich, die Wurzel unerwünschter Haare, etwa im Gesicht, zu veröden. Eine Mitarbeiterin der damaligen Botschaft der Sowjetunion in Bern wählte die in den Inseraten angegebene Telefonnummer und bestellte einen solchen Stift, der ihr umgehend geliefert wurde.
Später, als im Gefolge des Kopp-Skandals die sogenannte "Fischenaffäre" [24] bekannt geworden war – kantonale und eidgenössische Behörden hatten jahrzehntelang geheime Aufzeichnungen über etwa 900'000 Personen in der Schweiz angelegt, angeblich, um den Staat vor gefährlichen Elementen zu schützen – verlangte HERMANN J. AMANN Einsicht in die über ihn geführte Fiche. Zu seiner grossen Verwunderung war dort zu lesen, er sei "Kontaktperson zur russ. Botschaft". Offensichtlich hatte der Schweizer Geheimdienst auch das harmlose Telefonat der von Gesichtshaarwuchs geplagten Sowjet-Sekretärin mit AMANN abgehört und fichiert.
AMANN, der zur Nazizeit in Konstanz selbst erlebt hatte, wie die Schergen Hitlers jüdische Mitbürger, mit denen er zur Schule gegangen war, abholten und in Konzentrationslager einlieferten, war schockiert. Wäre es zu einem Krieg zwischen dem sowjetischen Osten und dem demokratischen Westen in Europa gekommen, so sagte er mir, wäre er wahrscheinlich vom Schweizer Geheimdienst als mit den Sowjets konspirierender naturalisierter ehemaliger Deutscher ebenfalls abgeholt worden. Er wollte unbedingt, dass das Unrecht, welches ihm die Schweizer Behörden dadurch angetan hatten, auch gerichtlich als Unrecht anerkannt wurde. Deshalb beauftragte er mich, dagegen vorzugehen.
In der gesamten Fichenaffäre hat es das Schweizerische Bundesgericht in keinem Fall gewagt, zu erklären, das jahrzehntelange Handeln der Polizeibehörden habe einer gesetzlichen Grundlage ermangelt und sei deshalb rechtswidrig gewesen. Gegen derartige Ansinnen freiheitlich gesinnter Bürgerinnen und Bürger steht in der Schweiz noch immer die Figur der sogenannten Polizei-Generalklausel zur Verfügung, die von den Gerichten ungehemmt eingesetzt wird, um rechtswidrig handelnde Schweizer Behörden, insbesondere auch den Bundesrat, vor der Freiheit und den Menschenrechten der Bürgerinnen und Bürger zu schützen.
Der Fall AMANN wurde schliesslich ebenfalls nach Strassburg getragen, und das Verdickt der Strassburger Richter war einhellig: die damalige Grosse Kammer des Gerichtshofes mit 17 Richtern, an welche der Fall wegen seiner Bedeutung verweisen worden war, erklärte am 16. Februar 2000 einstimmig, Artikel 8 der EMRK sei verletzt worden, weil das fragliche Telefongespräch abgehört und weil eine Fiche angelegt und aufbewahrt worden sei. Kein allgemein zugängliches Gesetz der Schweiz habe den Bewohnern nahegelegt, annehmen zu müssen, dass ihre Telefone abgehört werden könnten. Anlage und Aufbewahrung der Fiche sei ein Eingriff in den Anspruch des Beschwerdeführers auf Respektierung seines Privatlebens gewesen, für welchen eine gesetzliche Grundlage gefehlt habe. [25]
Damit hatte HERMANN J. AMANN erreicht, was er wollte: Die Feststellung, dass die Schweiz ihm gegenüber im Fichenskandal die EMRK verletzt hat. Warum beschränke ich diese Aussage auf HERMANN J. AMANN? Weil Strassburger Recht stets "case law" ist; es wird immer nur über einen konkreten Fall entschieden, und jeder Fall kann anders liegen.
Worin liegt nun die Bedeutung dieser Strassburger Rechtsprechung für die Schweiz? Sie kompensiert sie (sic!) die Mängel der eidgenössischen Gerichtsbarkeit. Unsere Bundesrichter müssen sich alle sechs Jahre einer Wiederwahl stellen, und demzufolge sind sie nicht so unabhängig, wie sie sein sollten. Wir haben es in der Vereinigten Bundesversammlung 1990 – genau heute vor 21 Jahren! - erlebt, dass eine Mehrheit der 246 Parlamentarier einen Bundesrichter im ersten Anlauf nicht wiedergewählt haben, weil diese Mehrheit meinte, er sei allein für ein paar Urteile verantwortlich, die gewissen politischen Kreisen nicht gefallen haben. [26] Eine Woche später wurde der betreffende Richter dann dennoch wieder bestätigt... [27]
Derartige Vorkommnisse auf der politischen Ebene, die sich auf die Rechtsprechung auswirken, schaden sowohl dem Ansehen unserer Justiz als auch des Parlamentes, und da ist es wohltuend, zu wissen, dass über "Lausanne" zumindest in Fragen, die mit Menschenrechten zu tun haben, ein internationales Gericht wacht. Kein Wunder, dass die kurz vorher angesprochenen Kreise dann jeweils auch auf die Idee kommen, die EMRK solchen Ärgers wegen kündigen zu wollen.
Die Schweiz hat sich – spät genug! - wie die 46 anderen Länder, die zum Europarat gehören, dieser kollektiven Aufsicht über die Einhaltung eines Minimalkatalogs von Menschenrechten und Grundfreiheiten unterworfen und an der Wahl der Richter des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte teilgenommen. Als einzige Nation besetzt die Schweiz in diesem Gerichtshof zwei Sitze: Der Schweizer MARK E. VILLIGER, Titularprofessor an dieser Universität, ist für das Fürstentum Liechtenstein als Richter gewählt worden; HELEN KELLER, welche als Ordinaria an dieser Universität tätig gewesen ist, hält seit wenigen Wochen den Schweizer Richtersitz in Strassburg.
Dadurch, dass wir diese Instanzen anerkennen, bekunden wir, dass wir die Rechte und Freiheiten, welche die EMRK gewährleistet, hoch schätzen und damit einverstanden sind, dass gemeinsam mit dem Schweizer Richter jeweils auch von uns gewählte andre europäische Richter über behauptete Verletzungen durch Schweizer Behörden entscheiden. Indem wir auf diese Weise vor unserer eignen Türe den Platz sauber zu halten versuchen, erwerben wir erst den Anspruch, anderen Staaten gegenüber auf die Einhaltung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu pochen.
Das EMRK-System ist zwar in keiner Weise über alle Zweifel erhaben. Noch immer wird das Budget des Gerichtshofs von den Regierungen der EMRK-Staaten bestimmt – also von jenen, die für Verletzungen der EMRK jeweils die Verantwortung zu tragen haben. Seit Jahren halten die Regierungen, darunter nicht zuletzt auch unser Bundesrat, den Gerichtshof so knapp, dass die Last der unerledigten Beschwerden von Jahr zu Jahr rasant ansteigt. Ende 2010 waren nicht weniger als 139'630 Beschwerden in Strassburg hängig. Die Regierungen sind nicht bereit, den Gerichtshof finanziell und personell ausreichend auszustatten und unterminieren auf diese Weise seine Wirkung: Vordergründig tut man so, als ob man Menschenrechte schützen wolle; wo es einen als Staat selber treffen könnte, bleibt man knauserig. Besser wäre es möglicherweise, dieses Budget würde von Ausschüssen der nationalen Parlamente und nicht von den Regierungen kontrolliert.
Das Entscheidende ist aber: Nur auf der Eben der EMRK kommt den in Europa wohnenden Menschen in ihrer Eigenschaft als Rechtsunterworfene genau die gleiche Parteistellung zu, wie sie auf der Gegenseite der Regierung zukommt, gegen welche sich eine Beschwerde richtet.
Unbefriedigend ist, dass die Medien über die Tätigkeit des Gerichtshofes nur selten berichten, und noch seltener ist es, dass sie zutreffend berichten. Dazu wird man sich mit dem Satz von
GEORGE BERNARD SHAW zu trösten haben, der in seinem Stück
"The Doctor's Dilemma" gesagt hat: [29]
<<... eine Zeitung braucht ja nicht gemäss ihren Beschreibungen und Berichten zu handeln, sondern sie bloss an neugierige Faulpelze zu verkaufen, verliert also durch Ungenauigkeit und Unwahrhaftigkeit nur ihre Ehre...>>
(c) 2011 by Schweiz. Gesellschaft für die Europäische Menschenrechtskonvention (SGEMKO), 8127 Forch.
[Genehmigung durch den Autor für den hier vorgenommenen Nachdruck nach Art. 10 Abs. 2 lit. b/c URG liegt vor]
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[1] Diese Funktion übte ich von 1964 bis 1974 aus.
[2] Die "Travaux préparatoires" sind heute online zugänglich: www.echr.coe.int/library/colfrtravauxprep.html
(Verweist, Version vom 09.11.2012 verfügbar bei archive.org)
[3] National-Zeitung, 3. Januar 1974,
"Die Schweiz und die Menschenrechte (I) – Die europäische Konvention";
National-Zeitung 4. Januar 1974,
"Die Schweiz und die Menschenrechte (II) – Der Strassburger Rechtsschutz";
National-Zeitung 5. Januar 1974,
"Die Schweiz und die Menschenrechte (III) – Gütliche Regelungen herrschen vor";
National-Zeitung, 7. Januar 1974,
"Die Schweiz und die Menschenrechte (IV) – Rasche Ratifizierung tut not"
[4] Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte EGMR) (sic!) im Fall: Belilos gegen die Schweiz vom 29. April 1988
[5] Urteil des EGMR im Falle ENGEL und andere gegen die Niederlande vom 8. Juni 1976 ("Five Soldiers")
[6] European Commission of Human Rights, Decisions and Reports (DR) Nr. 6, S. 170ff.
[7] DR Nr. 15 S 35ff.
[8] DR Nr. 31, S. 5ff.
[9] Urteil des Bundesgerichts vom 12. November 1976 in Sachen Herbert Eggs gegen den Oberauditor der Armee, unveröffentlicht
[10] 1977 Année politique Suisse / Schweizerische Politik, Bern 1978, S. 52f.; BBl 1977 I, 1129; BBl 1977 II, 1;
[11] Amtl. Bull. NR 3. Mai 1977
[12] BBl 1979 I, 606
[13] Entscheid der Kommission vom 11. Juli 1979
[14] Urteil des EGMR im Fall
SUTTER gegen die Schweiz vom 22. Februar 1984
[15] Urteil des EGMR im Fall
SCHIESSER gegen die Schweiz vom 4. Dezember 1979
[16] Urteil des EGMR im Fall
JUTTA HUBER gegen die Schweiz vom 23. Oktober 1990
[17] Die Bezeichnung "Haftrichter" sollte richtigerweise durch den Begriff "Freiheitsrichter" ersetzt werden: Es ist wichtigste Aufgabe dieser richterlichen Funktion, darüber zu entscheiden ob jemandem die Freiheit entzogen werden darf, nicht, ob Haft anzuordnen sei. Noch immer wird in der Schweiz viel zu zu (sic!) schnell und viel zu viel Haft angeordnet, was bedeutet, dass die "Haftrichter" ihrer Aufgabe, die Freiheit der Bürger zu schützen, nur unvollkommen nachkommen.
[18] Als Beispiel aus dem Kanton Zürich OS 51, S. 456, § 24a StPO
[19] Urteil des EGMR im Fall
MINELLI gegen die Schweiz vom 25. März 1983
[20] Früherer § 306 Abs. 1 StPO: Der Geschworenengerichtspräsident setzt der Partei, welche die Beurteilung durch das Geschworenengericht verlangt hat, Frist an, um für die Prozesskosten, inbegriffen die Zeugengebühren, Sicherstellung für den Fall des Unterliegens zu leisten.
[21] Urteil des EGMR im Fall SCHULER-ZGRAGGEN gegen die Schweiz vom 24. Juni 1993
[22] BBl 1991 III, 1423f., Art. 139a und 141 Abs. 1 Bst. C
[23] Urteil des EGMR im Fall SCHULER-ZGRAGGEN vom 31. Januar 1995
[24] siehe Hinweise auf amtliche Berichte und private Veröffentlichungen in Wikipedia unter <<Fichenskandal>>
[25] Urteil des EGMR im Fall
AMANN gegen die Schweiz vom 16. Februar 2000
[26] Amtl. Bulletin der Vereinigten Bundesversammlung vom 5. Dezember 1990
[27] Amtl. Bulletin der Vereinigten Bundesversammlung vom 12. Dezember 1990
BV-GG-CHEM - 10. Jun, 01:28