Rechtsphilosophie

Freitag, 4. Oktober 2013

Das Prinzip des wissenschaftlichen Rechts

Rechtliche Regelungen umfassen alle Bereiche des menschlichen Lebens. Es gibt sogar derart viele Rechtsnormen, dass die genaue Anzahl aller, auch bei einem kleinen Land wie der Schweiz, niemandem bekannt ist. Es sind jedenfalls wohl einige hundert. Wer diese Tatsache selbst überprüfen möchte, sei hiermit an die Systematische Sammlung des Bundessrechts verwiesen.

Angesichts der weiten Auswirkungen des Rechts auf den Alltag des Einzelnen – man zähle beispielsweise nur einmal alle Kaufverträge, welche man Tag für Tag abschliesst – muss das Recht strikt auf gesicherten Fakten basieren. Tut es das nicht, verliert es sich etwa in rein symbolischen oder programmatischen Artikeln, so besteht die sehr reale Gefahr, dass es in einem Streitfall aufgrund unüberwindbarer Differenzen zwischen dem Geschriebenen und der Realität nicht angewendet werden kann oder – weit schlimmer – die Anwendung nicht sinnvoll zur Lösung des Problems erscheint, dennoch aber durchgeführt werden muss.

Recht aber, das nicht angewendet wird, oder dessen Anwendung zu Ergebnissen führen muss, welche nicht sinnvoll sind, ist das Papier nicht wert, auf welchem es steht. Darum muss schon im Stadium der Rechtssetzung ausführlich überprüft werden, ob die gewünschten Rechtsnormen mit der gelebten Wirklichkeit vereinbar sind.

Wichtig ist dabei das Faktum, und nicht ideologische oder emotionale Wunschbilder gleich welcher politischen Strömung. Und für die nüchterne und unabhängige Sicherung der Fakten sind definitionsgemäss die Wissenschaften zuständig.

„Wissenschaft ist die Erweiterung des Wissens durch Forschung, seine Weitergabe durch Lehre, sowie die Gesamtheit des so erworbenen Wissens.“ (So zumindest das Wiki)

Zu berücksichtigen sind demnach bei der Rechtsetzung alle wissenschaftlichen Studien zur jeweiligen Sachfrage, genau so wie die Aussagen von Experten des betroffenen Fachgebiets, die auch persönlich anzuhören sind, wenn dies notwendig ist, so etwa zur Klärung strittiger Fragen oder zur Bereinigung von Differenzen.

Nur so kann gute Gesetzgebung funktionieren, die aufgrund durchdachter Formulierung fundierte Lösungen für Probleme bietet und die deshalb als Recht zu verankern ist.

Unwissenschaftliches Recht hingegen kann, wird und muss über früh oder lang zu absurden Rechtswirkungen führen, die Wirklichkeit und Recht von einander entfernen.

In diesem Sinne: „Let's be scientific about this, please!“ (Ema Skye)

Das Konzept des zwingend moralfreien Rechtsgüterschutz

Der Rechtsgüterschutz ist ein wesentlicher Bestandteil des modernen Rechtsstaats. Er stellt eine Zielvorgabe an den Gesetzgeber dar. Um die ihn bindende, in Art. 5 Abs. 3 BV verankerte verfassungsrechtliche Treuepflicht zu erfüllen, darf der Staat nur Rechtsnormen erlassen, die notwendig, nützlich oder zumindest unschädlich sind. (Montesquieu-Prinzip)

Um festzustellen, ob für den Erlass eines Rechtssatzes eine Notwendigkeit vorliegt, behilft man sich der Rechtsgutstheorie. Diese besagt, dass für jede Norm des Eingriffs- und Sanktionsrechts der Schutz eines bestimmten, klar bezeichneten Rechtsguts als Begründung erforderlich ist.

Rechtsgüter sind definiert als „rechtlich geschützte Interessen einer Person oder der Gesellschaft. Es handelt sich um Werte des Einzelnen oder der Allgemeinheit, die eine besondere Bedeutung für die Gesellschaft haben, wie z.B. Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit, Freiheit, Ehre, Eigentum, Bestand des Staates, usw.“ (MÜLLER, Repetitorium zum Schweizerischen Strafrecht S. 18)

Ableiten lassen sich die Rechtsgüter aus der Verfassung, diejenigen des Einzelnen aus den Grundrechten, diejenigen der Allgemeinheit aus den Kompetenznormen, welche gleichzeitig die öffentlichen Interessen des Staates darstellen.

Immer dann also, wenn der Staat ein Verbot oder Regeln zu dessen Durchsetzung erlässt, muss er präzise begründen, warum das verbotene Verhalten eine Verletzung eines bestimmtes Rechtsguts darstellt. Kann er dies nicht belegen, so ist das Verbot aus rechtsphilosophischer Sicht hinfällig, es verdient keinen Rechtsschutz und dürfte nicht angewendet werden.

Freier normieren darf der Gesetzgeber nur, wenn er nicht in geschützte Interessen des Einzelnen eingreift, also im Leistungsrecht. Dabei genügt es, wenn er die allgemeinen Verwaltungsprinzipien, also das Gebot der Rechtsgleichheit und das Willkürverbot, einhält. Im übrigen ist der Staat frei darin zu bestimmen, was er fördern oder mit Subventionen aktiv unterstützen möchte.

Weshalb nun aber „zwingend moralfrei“?

Dies ergibt sich aus geltendem Verfassungsrecht. Gemäss Art. 5 Abs. 1 BV ist nur, ausschliesslich und einzig das Recht „Grundlage und Schranke staatlichen Handelns“. Rechtsregeln, die nur auf moralischen Überzeugungen gründen, sind daher von vornherein unzulässig.

Der Sinn dieser Norm, welche die Moral aus dem zulässigen Regelungskreis des Gesetzgebers ausschliesst, liegt in grundsätzlichen rechtsphilosophischen Überlegungen begründet. Der Staat hat nur deshalb überhaupt die Erlaubnis zum Erlass von bindenden Regeln, eben von Recht, weil er diese Kompetenz vom Kollektiv der Bürger in freiwilligem Souveränitätsverzicht erhalten hat. (Demokratietheorie)

Im Ausgleich für diese weitreichende Befugnis ist der Staat dazu verpflichtet, die elementaren Rechtsgüter, die rechtserheblichen Interessen des Einzelnen zu schützen und zu bewahren.
Üblicherweise geschieht dies dann durch Erlass eines Katalogs an elementaren Rechten von Verfassungsrang, die jedem Individuum Kraft seines Wesens als Rechtssubjekt, also als Mensch zukommt. (Menschenrechte und Grundfreiheiten)

Der Staat bestimmt also – quasi als Treuhänder für das Volk – diejenigen äusseren Regeln einer Gesellschaft, welche unbedingt erforderlich sind, um ein friedliches Zusammenleben der Bevölkerung garantieren zu können. Er darf sich dabei weder in absolute Privatbelange einmischen noch die Handlungen von Privaten völlig ignorieren. Ersteres ist der Grund für den starken Grundrechtsschutz der Geheimsphäre des Einzelnen, letzteres der Grund dafür, dass Zivilrecht und Strafrecht als staatliche verordnete Regelungen, eben als Rechtssätze überhaupt existieren.

Das Konzept der Moral hingegen widerspricht diesen Grundsätzen diametral.

Moral bedeutet innere Regeln des Einzelnen, nach welchen dieser lebt und die er haben kann oder eben nicht. Diese sind gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht verbindlich sind und dass die einzige Sanktion für ihre Übertretung – wenn überhaupt – ein Gefühl persönlichen Unwohlseins ist, welches in der Umgangssprache als „schlechtes Gewissen“ bezeichnet wird.

Wenn Recht moralisch ist, wird also die innere Regel Einzelner als äussere Regel für die Gesellschaft konstituiert und entsprechend mittels Staatsgewalt – zumindest scheinbarer – Gehorsam eingefordert.

Dies führt logischerweise zu Protest seitens derer, welche die betreffende innere Regel für sich persönlich, aus welchen Gründen auch immer, ablehnen. Dies wird ihnen nun aber als
äussere Regel aufgezwungen, und Verstösse gegen die Regel werden mit den amtlichen Vollstreckungsmassnahmen geahndet.

Weil die Betroffenen aufgrund ihrer persönlichen Ansichten nicht nachvollziehen können, weshalb ihnen die Entscheidungsfreiheit über die betreffende Regel genommen wird, führt eine solche Regelung zwingend zu Unzufriedenheit und damit letztlich zu Unfrieden, also dem genauen Gegenteil dessen, wofür das Recht als Institution ursprünglich geschaffen wurde.

Mag ein solcher, moralischer Akt auch aus noch so guten Absichten geschehen, unterscheidet er sich doch nicht substantiell von einer schlechten Handlung. Das Durchdrücken von Mehrheitsmeinungen entgegen berechtigten Interessen von Minderheiten ist eben gerade NICHT Zeichen der Demokratie, sondern vielmehr dasjenige der Diktatur.

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